
Das semistrukturierte Interview ist eine Methodik zur gezielten Erhebung qualitativer Daten auf Basis eines festen Forschungsinteresses. Zugleich bietet es Potenzial, neue Forschungsfelder zu erschließen und überraschende Ergebnisse zu liefern. In diesem Artikel erfährst du, was ein semistrukturiertes Interview ausmacht, wo es im wissenschaftlichen Diskurs verortet ist und wie du es für deine Arbeit nutzen kannst.
Definition: Semistrukturiertes Interview
Das semistrukturierte Interview ist eine empirische Methode, die Daten durch die (unmittelbare) Befragung von Einzelpersonen und Gruppen erhebt. Es ist neben dem strukturierten und dem unstrukturierten Interview eine von drei übergeordneten Interviewformen. Ein semistrukturiertes Interview basiert auf einem vorab entwickelten Konzept, einem klaren Forschungsinteresse und ausformulierten Fragen. Im Gesprächsverlauf darf jedoch flexibel davon abgewichen werden. Dieses Konzept ist der Interviewleitfaden.
Ebenso können die Befragten im Gegensatz zum strukturierten Interview eigenständige Antworten formulieren, anstatt aus festgelegten Antwortmöglichkeiten wählen zu müssen. Die auf diese Weise erlangten Daten dienen der qualitativen Forschung. Sie können nicht (ohne Weiteres) in eine Statistik übersetzt werden, liefern jedoch Belege für die Existenz bestimmter Phänomene und Meinungen. Auswertungen dieser Art basieren auf qualitativen Interviews, bei denen Sprache und Kontext im Mittelpunkt stehen. Ferner dient das semistrukturierte Interview dazu, unerwartete Entdeckungen zu machen und spontan vertiefen zu können.
Synonyme sind halbstrukturierte, teilstandardisierte oder teilstrukturierte Interviews. Zudem ist der Begriff „Leitfadeninterview“ gebräuchlich.
Halbstrukturiertes Interview wird häufig synonym zum semistrukturierten Interview verwendet. In der Fachliteratur finden sich beide Bezeichnungen. Sie beschreiben jedoch dieselbe Interviewform, die zwischen freiem Gespräch und vollständiger Standardisierung angesiedelt ist. Das halbstrukturierte Interview zählt zu den wichtigsten qualitativen Interviews in der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Übersicht
Jedes semistrukturierte Interview verfügt über einen Leitfaden. Dieser ist auf das jeweilige Forschungsinteresse ausgerichtet und dient der interviewenden Person als Anleitung, um das Interview durchzuführen. Darin sind die:
- zu stellenden Fragen,
- ihre Reihenfolge,
- optionale Zusatzfragen und
- Anweisungen,
nach denen das Interview gestaltet werden soll, wenn das Gespräch in eine bestimmte Richtung verläuft. Je nach Grad der Strukturierung kann der Leitfaden mehr oder weniger umfangreich gestaltet sein. Ein besonders detailliert ausgearbeiteter Leitfaden ist auf viele Eventualitäten vorbereitet, während ein kürzerer Leitfaden das Gespür und die Improvisationsfähigkeit der interviewenden Person fordert.
In jedem Fall gehört ein semistrukturiertes Interview der qualitativen Forschung an. Durch die freie Beantwortung der Fragen liefert es keine quantitativ-vergleichbaren Ergebnisse, sondern sprachliche Informationen und Einzelbelege, die anhand der qualitativen Forschungsmethoden interpretiert werden müssen.
Im Gegensatz zum semistrukturierten Interview stehen das unstrukturierte und das strukturierte Interview. Das unstrukturierte Interview verzichtet auf einen Leitfaden und betont die freie Gesprächssituation mit der befragten Person. Das strukturierte Interview verfügt über einen vollständig verbindlichen Fragenkatalog mit festgelegten Antwortmöglichkeiten. Anders als das semistrukturierte und unstrukturierte Interview liefert es quantitative Daten, jedoch keine Aussicht auf Phänomene, die außerhalb der Forschungsfrage liegen. Solche quantitativen Interviews bieten eine höhere Repräsentativität, aber weniger Tiefgang.
Formen
Das semistrukturierte Interview lässt sich in verschiedene Unterarten unterteilen:
Es wird ein Fragenkatalog in provisorischer Reihenfolge vorbereitet. Die interviewende Person darf (nur) bei Bedarf vom geplanten Leitfaden abweichen.
Das problemzentrierte Interview ist ein Leitfadeninterview, das sich auf einen bestimmten persönlichen oder gesellschaftlichen Problemkomplex Dabei geht es vornehmlich um die Erfahrungsberichte der befragten (oft betroffenen) Person(en).
Das Experteninterview holt das Fachwissen einer Person ein, die Experte auf dem zu behandelnden Gebiet ist.
Hierbei findet die Befragung im offenen Diskurs statt. Die interviewende Person moderiert ein Gruppengespräch im Rahmen der Forschungsfrage. Dabei pflegt sie Fragen in die Debatte ein und erschließt (unter anderem) die Meinungen der teilnehmenden Personen.
Wann ist es ungeeignet?
Trotz der vielen Möglichkeiten, in denen ein semistrukturiertes Interview eingesetzt werden kann, gibt es Situationen, für welche sich halbstrukturierte Interviews nicht eignen:
1. Erhebung statistischer Daten
- Für eine quantitative Studie, die Aussagen über eine Grundgesamtheit treffen möchte, ist ein strukturiertes Interview besser geeignet. In solchen Fällen kann auch ein quantitatives Interview verwendet werden, das stark standardisierte Fragen nutzt und sich auf die Auswertung numerischer Daten konzentriert.
2. Bei biografischen Fragen
- Wenn die befragte Person (zuvor unbekannte) Stationen ihres Lebens nacherzählen soll, ist ein unstrukturiertes Interview besser geeignet, da sich hierfür kaum Fragen vorbereiten lassen.
3. Feste Reihenfolge des Versuchsaufbaus
- Soll die Fragenreihenfolge einen beobachtbaren Einfluss auf die Antworten haben, empfiehlt sich ein strukturiertes oder halbstrukturiertes Interview mit strengem Leitfaden.
Vor- und Nachteile
Alle Forschungsmethoden verfügen über ihre eigenen Vorteile, aber auch über ihre eigenen Nachteile. Auch das semistrukturierte Interview weist sowohl Vorteile als auch Nachteile auf:
Vorteile | Nachteile |
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Durchführung
Die Durchführung eines semistrukturierten Interviews lässt sich auf ein einfaches Schema herunterbrechen. Dabei sind die folgenden vier Schritte zu beachten.
Bevor du ein halbstrukturiertes Interview durchführst, musst du einen Leitfaden konzipieren, der den thematischen Rahmen vorgibt, optionale Zusatzfragen bereithält und etwaige Freiräume markiert. Du bist nicht vollständig an diesen Leitfaden gebunden, solltest ihn jedoch dazu nutzen, das Interview auf dein Forschungsinteresse auszurichten. Ansonsten gewinnst du Daten, für die du keine Verwendung hast.
Nachdem der Leitfaden steht, benötigst du Personen, die sich als Interviewteilnehmerfür dein spezifisches Forschungsinteresse eignen. Nicht jede befragte Person liefert Antworten von gleicher Aussagekraft. In einem problemzentrierten Interview zur Arbeitsmarktsituation während der Ölkrise 1973 wäre es vorteilhaft, wenn die befragten Personen in diesem Zeitraum tatsächlich in einer betroffenen Branche tätig waren.
Nun führst du das Interview durch. Finde einen leicht beantwortbaren Einstieg und bemühe dich um offene Fragen, die dein Gegenüber nicht zu bestimmten Antworten nötigen. Bedenke, dass ein semistrukturiertes Interview jederzeit an interessante Antworten oder die Befragungssituation angepasst werden kann. Zeichne das Interview mindestens als Tonaufnahme auf. Die aufgenommenen Interviews sind Grundlage für die Auswertung. Vermeide dabei möglichst ein geschlossenes Interview, in dem nur Ja-/Nein-Antworten möglich sind, da dies den Erkenntnisgewinn begrenzen kann. Stattdessen sind offene Interviews besonders geeignet, um tiefere Einblicke zu erhalten.
Zuletzt wertest du dein halbstrukturiertes Interview anhand der qualitativen Forschungsmethoden. Dafür musst du es zunächst transkribieren. Die nachfolgende Interpretation findet schriftsprachlich (nicht mathematisch) statt. Das bedeutet, dass du deine Ergebnisse in Worten und nicht in Zahlen festhältst, was charakteristisch für qualitative Ergebnisse ist. Quantitative Ergebnisse würden hingegen als Zahlen festgehalten werden.
Beispiel
Im Folgenden haben wir für dich ein Beispiel zum besseren Verständnis vorbereitet.
Die Befragung wurde als qualitatives Interview durchgeführt, wobei sich zeigte, dass die Interviewten sehr persönliche und emotionale Eindrücke schildern konnten. Solche qualitativen Interviews ermöglichen es, subjektive Erfahrungen systematisch zu erfassen.
Dos & Don’ts
Möchtest du selbst ein semistrukturiertes Interview durchführen, haben wir hier noch einmal die wichtigsten Tipps für dich zusammengeschrieben.
Dos
- Neutrale Atmosphäre herstellen
- Offene Fragen für individuelle Antworten stellen
- Am Leitfaden orientieren, flexibel bei Bedarf reagieren
- Verständlich und klar im sprachlichen Ausdruck bleiben
Don’ts
- Verbale Bewertung der Antworten
- Geschlossene Interviews bei Exploration vermeiden
- Zu starke Abweichung vom Leitfaden gefährdet Fokus
- Suggestiv- oder Ja/Nein-Fragen konsequent vermeiden
Die verschiedenen Interviewformen
Welche Interviewform sich für ein Forschungsprojekt eignet, hängt von seinen spezifischen Bedürfnissen ab. Diese Übersicht hilft dir, das geeignete Format zu finden:
Anschlussfragen | |||
Feste Reihenfolge | |||
Neue Erkenntnisse | |||
Repräsentative Daten | |||
Vorformulierte Fragen | |||
Festgelegte Antworten |
In manchen Fällen sind auch geschlossene Interviews hilfreich, wenn es um klare Ja-/Nein-Antworten geht. Dagegen ermöglichen quantitative Interviews, standardisierte Datenerhebung und quantitatives Interview eine statistische Auswertung.
Besonders hilfreich ist ein offenes Interview, wenn es um persönliche Perspektiven geht, die nicht durch feste Antwortkategorien eingeschränkt werden sollen. Auch unterschiedliche Ansichten im Interview lassen sich so besser herausarbeiten.
Häufig gestellte Fragen
Ein semistrukturiertes Interview verfügt über einen vorher festgelegten Fragenkatalog, ermöglicht der befragten Person jedoch, Antworten individuell zu formulieren. Weiterhin darf die interviewende Person Fragen improvisieren und die Reihenfolge der Fragen frei antizipieren.
Es generiert qualitative Daten durch die Befragung von Personen oder Personengruppen. Es ist dazu geeignet, Forschungsmaterial zu sammeln, Phänomene sichtbar zu machen und neue Forschungsfelder zu erschließen.
Wenn du in deiner Arbeit qualitative Forschung betreiben möchtest, kann ein semistrukturiertes Interview die empirische Grundlage dafür bieten.
Ein semistrukturiertes Interview greift auf zuvor festgelegte Fragen zurück, die einem bestimmten Konzept folgen und auf ein dezidiertes Forschungsinteresse ausgerichtet sind. Während es zwar von diesen Fragen abweichen darf, verfügt das unstrukturierte Interview gar nicht erst über ein festgelegtes Konzept.
Das semistrukturierte Interview ist nicht geeignet, um repräsentative Daten zu erheben. Es erlaubt Aussagen über die Existenz und nähere Beschaffenheit bestimmter Meinungen, Einschätzungen und Phänomene, nicht jedoch über ihre statistische Relevanz.